Um Krisen zu bewältigen, müssen Gesellschaften Zusammenhalt beweisen. Was aber, wenn dieser Zusammenhalt infrage gestellt wird? Die Satire-Aktion #allesdichtmachen von 53 Schauspielern und Schauspielerinnen tat genau das und provozierte damit eine Gegenreaktion, die offenlegt, wie uneins die Gesellschaft ist und wie dünnhäutig der Medienbetrieb reagieren kann. Ein Erklärungsversuch
Über ein Jahr dauert der Ausnahmezustand infolge der Pandemie nun schon; über ein Jahr sich ständig verändernder Vorschriften; über ein Jahr tiefgreifender Beschränkungen; über ein Jahr an Verzicht, den unsere Gesellschaft weitgehend langmütig mitgetragen hat.
Gesellschaftliche Unwuchten
Dabei ist die Last, die uns durch die Pandemiebekämpfung auferlegt wurde, keineswegs gleichmäßig verteilt. Während der Eine seinen Bürojob ins Homeoffice verlegen konnte, kann der Andere seinem Beruf nicht weiter nachgehen, bangt um seine Anstellung, sein Geschäft, seine Zukunft. Während der Eine mit der Sicherheit des Kurzarbeitergelds ausgestattet ist, rutscht der Andere in Hartz IV ab oder wartet monatelang auf Überbrückungshilfen.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Verwaltung durch unsere Behörden sowie das Management unserer Bundesregierung und die Koordinierung auf europäischer Ebene deutliche Schwächen offenbarten:
Anpassungen dauern nach wie vor zu lange. Regelungen sind viel zu kleinteilig durchdacht, werden gar von einzelnen Gerichten gekippt. Lernprozesse beschränken sich zu oft auf den nationalen Rahmen. Fehlende Prioritätensetzung wirft die Frage nach einer langfristigen Strategie auf, d. h. dem Weg bis zur Verwirklichung des vielzitierten „Impfangebots“.
So hat sich eine Unwucht in der Beurteilung der aktuellen Lage entwickelt, die einerseits auf der individuell zu schulternden Last fußt und andererseits im sinkenden Vertrauen in die Regierung begründet ist.
Wendepunkt Notbremse
Mit dem Vordringen der britischen Virusvariante im Februar und März machten sich Angst vor exponentiell wachsenden Inzidenzzahlen und dem Schreckensszenario Triage breit. Bestätigt durch eine Prognose des RKI, sah sich die Regierung zum Handeln gezwungen. Auf eine gänzlich gescheiterte Ministerpräsidentenkonferenz, die in einer Entschuldigung der Kanzlerin mündete (Stichwort: Osterruhe), folgte dann jedoch erst einmal nichts.
In dieser Zwischenphase entfernten sich die bürgerlichen Lager zusehends voneinander. Auf der einen Seite sehen Kritiker, dass die Prognose des RKI zu alarmistisch gewesen sein könnte und, dass andere Ansätze wie in Tübingen ebenfalls Erfolg versprechen. Auf der anderen Seite wartet eine beträchtliche Anzahl Menschen sehnsüchtig auf Eindämmungsmaßnahmen der Bundesregierung, um die drohende Katastrophe zu verhindern.
Als schließlich Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident im Rekordtempo die Bundes-Notbremse verabschiedeten, wurden damit Fakten geschaffen, die den Konflikt unauflösbar erscheinen lassen. Durch die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt werden sowohl Modellversuche gestoppt als auch föderale Strukturen aufgehoben. Das Künstlerkollektiv trat auf den Plan.
Gefahr für die Allgemeinheit
In überspitzt ironischen Ton wenden sich die Schauspieler und Schauspielerinnen in ihren Satirebeiträgen an den Zuschauer und gegen die propagierte Mehrheitsmeinung.
Sie thematisieren die Angst als Dauerzustand, die Rolle der Medien, die Verbreitung einer Blockwart-Mentalität, die Zuschreibung rechter Gesinnung, den Wert von Kultur, ungleiche Betroffenheit, die Absurdität einzelner Maßnahmen, drohende Eskalation aufgrund anhaltender Beschränkungen, den autoritär auftretenden Staat bis hin zum unmündigen Bürger.
Das gelingt mal gut, mal weniger gut. Für die Auseinandersetzung in den 24 Stunden nach der Veröffentlichung spielten diese Inhalte jedoch kaum eine Rolle. In Windeseile formierten sich zunächst auf Twitter die zwei Lager, die in den Maßnahmen Wohl oder Übel für unsere Gesellschaft sehen. So gelten die Satirebeiträge wahlweise als Befreiungsschlag oder als ekelhaft bis verschwörerisch.
Angeführt von einer beträchtlichen Zahl namhafter Journalisten und Extremismusexperten, untersuchten Letztere die Beiträge auf ihre Verbreitungswege und ihre Sprache. Überraschenderweise (Vorsicht: Ironie) wurden sie bei Menschen fündig, die im Verdacht stehen, Querdenker zu sein.
Dieser impulsiv-reaktionären Handlung ist immanent, dass der Einzelne nicht für sich steht, sondern immer Teil des Ganzen ist. Alles muss zugeordnet werden. Dementsprechend vernichtend fallen die meisten Urteile aus, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe in den Kommentarspalten der Zeitungen veröffentlicht wurden. #Allesdichtmachen wurde schlagartig zur Gefahr für die Allgemeinheit.
Was hierbei komplett auf der Strecke blieb, ist die grundlegende Voraussetzung journalistischer Arbeit: Jede Äußerung ist zunächst Teil eines Kommunikationsakts mit eigenem Hintergrund, eigener Perspektive und eigenem Anliegen. Diese sollten ergründet und nicht einfach nach Labeln abgeheftet werden.
Das gilt insbesondere in Krisenzeiten, in denen der Meinungskorridor enger ist als im Normalbetrieb, und insbesondere dann, wenn der Journalist als Teil der Botschaft betroffen bzw. präziser formuliert befangen ist.
Mittelalterliche Reuerituale
Aufgrund der massiven Anfeindungen in der Presse gerieten die Schauspieler unter Rechtfertigungsdruck. Sie sollen zeigen, dass sie keine rechte Gesinnung haben und nicht in Kontakt zu Querdenkern stehen. Da der Vorwurf gegenüber Personen wie Jan Josef Liefers einigermaßen absurd erscheint, lautet die gängige Abwandelung, sie würden Rechten in die Hände spielen.
Sie müssen sich anhören, dass sie die Opfer der Pandemie verhöhnen, wie sogar Außenminister Maas auf Twitter behauptet. Sie werden dafür verantwortlich gemacht, dass Journalisten nun einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind.
Ihnen wird vorgeworfen, mit Ironie ein ungeeignetes Stilmittel genutzt und mit ihrem Zynismus die Debatte vergiftet zu haben. Dass ausgerechnet Bild TV an die Kampagne Besondere Helden der Bundesregierung erinnerte, ist der eigentlich ironische Höhepunkt in dieser Geschichte. Es veranschaulicht aber, dass die Wahrnehmung, was zynisch ist und was nicht davon abhängt, ob etwas als kontraproduktiv betrachtet wird.
Der Ton in der Auseinandersetzung wird mitunter durch einen Goebbels-Vergleich gesetzt. Der enorme Druck wird durch die massive Kritik von Kollegen erhöht. Selbst Formate wie die Heute-show, extra3, das Browser Ballett oder Satiriker wie Jan Böhmermann stimmen in den Chor mit ein, bis die ersten Teilnehmer der Aktion sich davon distanzieren.
Die anschließenden Entschuldigungen werden gesammelt und weiterverbreitet. Sie dienen gleichermaßen dem Mob in den sozialen Medien als Trophäe und als Warnung für diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, ins gleiche Horn zu stoßen.
Dieses mittelalterliche Reueritual, das nichts weiter als ein Online-Pranger ist, verspricht eine Chance auf Rehabilitation. Doch auch im Zuge der Entschuldigung selbst müssen die Protagonisten noch verbale Spuckattacken ertragen. Sich für die eigene Meinung zu entschuldigen, ist in aller Regel nicht besonders glaubhaft und sorgt deshalb für zusätzlichen Spott.
Für den Rest gilt es ab diesem Zeitpunkt nicht negativ aufzufallen, denn die Suche nach den Organisatoren, den Hintermännern, beginnt. Im Falle von #allesdichmachen heißt der Sündenbock Dietrich Brüggemann, der mit seinen anarchistisch anmutenden Einlassungen gefahrlos durch Themenfelder manövrieren könnte, die dem medialen Mainstream als kritikwürdig erscheinen.
Die Trägheit der Mitte
Die Solidaritätsbekundungen für die Schauspieler fallen zunächst einigermaßen spärlich aus. Neben Journalisten des Axel Springer Verlags, die sich hier bedingungslos hinter die Kunstfreiheit stellen, verteidigen vor allem Politiker (aller Fraktionen) die Aktion. Wolfgang Kubicki sei an dieser Stelle mit seinem denkwürdigen Gastbeitrag bei t-online hervorgehoben.
Die Ursache für die Zurückhaltung der gemäßigten Kräfte liegt u. a. darin begründet, dass sie sich von Natur aus weniger an hitzig geführten Debatten beteiligen. Sie sind weniger in sozialen Medien aktiv und greifen meist erst dann ein, wenn ein Gleichgewicht bedroht ist oder Personen ungerechtfertigt in Verruf geraten.
Umso länger der Streit um #allesdichtmachen andauert, desto mehr Personen äußern sich im Sinne der Schauspieler. Die meisten online-Medien enthalten mittlerweile unterstützende Beiträge. Gleichwohl hat diese Beobachtung zwei Einschränkungen:
Erstens ist der Anteil an Journalisten im Vergleich zur Gegenseite sehr viel geringer. Die Aufgabe wird häufig von Gastautoren übernommen. Zweitens geben die Öffentlich-rechtlichen Medien in ihrer Gesamtheit kein Ruhmesblatt ab, da ihr Auftrag zu deutlich mehr Neutralität verpflichtet.
Darüber hinaus hat die oft zitierte Mitte die Eigenschaft, abwartend zu agieren. Je unklarer die Fronten, je unsicherer die Sprecherposition, desto unwahrscheinlicher ist, dass sie sich an einer Auseinandersetzung beteiligt.
Zukünftigen Opfern unverhältnismäßiger Shitstorms kann man daher nur dazu raten, die Angelegenheit auszusitzen, auf Unterstützung zu warten und ggf. Rechtsbeistand zu suchen. Sich von sich selbst zu distanzieren ist vielleicht der schnellere, aber ganz sicher nicht der gesündere Weg.
Bei Normalbürgern, die sich von #allesdichtmachen vertreten fühlen, aber weder über die Vita noch über die Lobby der Prominenz verfügen, bleibt nach dieser medialen Hetzjagd vermutlich ein ganz anderes Gefühl zurück:
„Verzweifeln Sie ruhig, aber zweifeln Sie nicht“